Labor für Begegnungen zwischen Kunst, Forschung und Lehre

︎︎︎ Info
︎︎︎ Email
︎︎︎ Dokumentation









Labor für Begegnungen zwischen Kunst, Forschung und Lehre

︎︎︎ Info
︎︎︎ Email
︎︎︎ Dokumentation



GESPRÄCH MIT MARC BONNER

BESUCH



10.11.2023

Saarbrücken

Zusammenarbeit mit Dr. Marc Bonner

Links:
spatial.io
YouTube
Das Gespräch mit Marc Bonner fand in der Heimatstadt des Forschers, in Saarbrücken, statt. Marc Bonner ist promovierter Kunsthistoriker mit dem Schwerpunkt auf Architekturgeschichte. In seiner Lehrtätigkeit, Publikationen und letztlich seinem DFG Projekt “Offene Welt Strukturen” forscht er zu Videospielen und ihrer Architektur. Architektur gilt ihm als “mediales Scharnier”, das der Welterzeugung in Games maßgeblich beiträgt.

Für das Post Physical Sense Lab war das Gespräch mit Marc Bonner aus vielerlei Gründen interessant: Seine fachliche Perspektive auf das selbstvergessene Umherwandern in Videospielen gab uns Einblicke darauf, wie eine virtuelle Realität des Metaverses für viele Menschen bereits heute in Videospielen realisiert wird. Seine Rolle als interdisziplinärer Forscher, der sich oft zwischen den Stühlen befindet, war besonders in Hinblick auf die Verschränkung von Theorie und Praxis (sei es in Kunst, Videospielen oder Architektur) lehrreich – denn das Medium Videospiel steht im Vergleich zum Film noch nicht in seiner kulturelle Blüte, es fehlt Designer*innen u.a. der Games-philosophische Zugang.

Das Gespräch fand in einem ungezwungenen Rahmen statt und entspricht am ehesten einem qualitativen Interview. Das persönliche Treffen war zudem notwendig, um gemeinsam mittels Meta Quest 2 Brillen auf der spatial.io Plattform einen Rundgang durch bekannte Levelarchitekturen der Videospielgeschichte zu machen. Dabei waren die Stadtarchitekturen und deren Entwicklung der Grand Theft Auto Spiele sowie ein detaillierter Level-Nachbau von de_office, eines ikonischen Counter Strike: Global Offensive Mehrspieler-Levels. Auf spatial.io kann der virtuelle Rundgang aufgerufen werden. Ein Video dokumentiert die Endrücke auf spatial.io.




Gespräch (strukturiert und gekürzt)
Jörg Seit wann hast du die Erkenntnis ein Hobby wie Videospielen in deine Forschung einzubringen? War das schon im Masterstudium so?

Marc Das war reiner Zufall. Ursprünglich wollte ich Architektur studieren, bin dann aber über Umwege in der Kunstgeschichte mit Schwerpunkt auf Architektur gelandet. Zeitgenössischer als die Moderne wurde es in dem Studiengang damals allerdings kaum. In meiner Magisterarbeit ging es darum in Calatravas Architektur auf Spuren der Avantgarde-Skulptur zu untersuchen, Videospiele waren damals noch nicht mehr als ein Hobby. Mein Glück war dann, dass ich bei Henry Keazor studiert habe, der im Übrigen ein großer Sci-Fi-Fan ist. In dieser Zeit erweiterte ich meinen Schwerpunkt zu Calatrava darum, welchen Einfluss seine Architektur auf die Architekturgestaltung in Sci-Fi-Filme hatte und widmete ein kleines Kapitel meiner Doktorarbeit den Videospielen. Der eigentliche Schlüsselmoment war dann, dass Henry Keazor mich Thomas Hensel vorgestellt hatte. Hensel ist Professor in Pforzheim und eigentlich Kunsthsitoriker, der sich genau wie ich für Videospiele interessiert. Über ihn habe ich Benjmain Beil in Köln kennengelernt und konnte dort wenig später als Lecturer in Medienissenschaft anfangen, wo ich mir sozusagen über Nacht Medientheorie- und Philosophie angeeignet habe. Darauf folgten Seminare zu Videospielen, Konferenzen der Games Studies und letztlich auch mein DFG-Projekt „Offene-Welt-Strukturen“.

Jörg Ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland gar nicht so einfach ist, mit dem Wissen was du hast, Anbindung zu finden. Persönlichkeiten wie Stephan Günzel sind sehr bekannt, haben Grundlagenwerke geschrieben und haben dennoch Schwierigkeiten universitäre Stellen zu finden. Sind Videospiele in der deutschen Forschungslandschaft immer noch nicht wirklich angekommen? Und wohin mit unserem Wissen? In den skandinavischen Ländern bspw. in Dänemark und Schweden soll es vergleichsweise besser sein?

Marc Da ist es richtig gut. In Finnland auch, dort sind die Game Studies institutionalisiert. Auch in Belgien oder den Niederlanden finden wir Professuren und Departements, die tatsächlich auf Videospielforschung gemünzt sind. In Deutschland ist das leider noch ein Problem. Im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile Bestrebungen Game Studies grundständig zu institutionalisieren, bspw. In Innsbruck. Dort wurde jüngst eine Game Lab gegründet. Nur leider steckt das hierzulande noch in den Kinderschuhen. Das merkt man, wenn man sich die wenigen vorhandenen Studienangebote anschaut, die oft wie ein Blinddarm an großen Instituten hängen. Ich würde mir wünschen, dass jeder Game Design Studiengang grundständig verankert und dabei von einer analytischen Theorie begleitet würde, sodass Studierende, die später Gamedesigner*innen werden, ein tieferes Verständnis für den Gegenstand entwicklen. Nur leider ist das gerade an staatlichen Hochschulen nur selten der Fall.

Louis Hast du auf der praktischen Seite Verbindungen in die Videospielindustrie?

Marc Das ist leider auch ein generelles Problem. Aus den Geisteswissenschaften werde ich oft gefragt, ob ich mit Entwickler*innen spreche. Darauf antworte ich: Soweit ich es kann. Ich habe über die Jahre meiner Forschung hinweg sehr viele Anfragen gestellt und bin von den meisten Studios abgewiegelt worden. Grundsätzlich ist der Kontakt zu großen Teams schwierig aufzubauen, bei Indie-Teams gelingt das leichter. Etwa hatte ich längere Gespräche mit Dan Pinchbeck von „The Chinese Room“, sowie mit Ian Dallas von „Giant Sparrow“. Mit Designer*innen bei größeren Firmen kommt es oft nur zu einem Interview, wenn das Projekt länger zurückliegt oder die Person nun bei einem anderen Arbeitgeber ist – so zumindest meine Erfahrung.

Jörg Gibt es in der Praxis auch Leute, die spiele-philosophisch gebildet sind und diese Diskurse mit in ihre Arbeit einfließen lassen?

Marc Das kommt auf die Leute an. Mir fällt da Dan Pinchback von „The Chinese Room“ ein, der das Genre der Walking Simulatoren erfunden hat. Pinchbeck hat eine Doktorarbeit in englischer Literatur über Egoshooter-Strukturen geschrieben und das Spiel „Dear Esther“ entwickelt. Seine Doktorarbeit ist wirklich lesenswert. Darüber hinaus lohnt sich ein Blick in die Praxis des Studios „Arkane“ in Lyon. Das sind die Entwickler*innen von „Dishonored“ oder „Prey“ und du merkst diesen Spielen an, dass die von Künstler*innen und Architekt*innen mitentwickelt wurden. Sowohl visuell als auch konzeptionell. Dementsprechend sind mir diese Spiele, von allem was ich die letzten Jahre gespielt habe, in Erinnerung geblieben. Ansonsten fällt mir noch das Studio „IO Interactive“ ein, die in Kopenhagen angesiedelt sind und für die Entwicklung der „Hitman“ Spiele meines Wissens nach mindestens vier Architekt*innen angestellt haben. Nur leider sind diese Beispiele die Ausnahme. Es ist schon eine große Seltenheit, dass Personen in der Spieleindustrie akademisch gebildet sind oder aus einem architektonischen Umfeld kommen.

Jörg An dieser Stelle will ich einen Vergleich zu den Cahiers du Cinèma und den Film der Nouvelle Vague wagen. Jean-Luc Godard war in erster Linie Philosoph, der sich über das Medium Film ausdrückte. Über die kritischen Filmzeitschriften gab es durch ihn und andere in den 80ern einen starken Diskurs im Film, der das Medium meiner Meinung nach besonders voranbrachte. Soweit, dass auch in großen Produktionen auf philosophische Konzepte gesetzt und Experimente gewagt wurden. Videospiele scheinen diese Blüte noch nicht erreicht zu haben. Wo sind die Spieltheorie und die Spielephilosophie? Beziehungsweise, wo sind die Spiele-Philosoph*innen und Philosophen, die dann auch Videospiele machen?

Marc Ja, das ist der Knackpunkt. In Deutschland hast du genau einen, der sich als Spiel-Philosoph outet: Daniel Feige. Oder Markus Rautzenberg, obwohl er eigentlich in der Fotografie unterwegs ist. Das ProbIem ist, dass es in Deutschland immer noch diesen harten Cut zwischen Wirtschaft oder Industrie und den Hochschulen gibt. In den Niederlanden oder Dänemark finden sich dort fließende Übergänge, womit es überhaupt erst möglich ist, an Universitäten Multi-Millionen-Euro-Projekte zu stemmen. Diesen Verbund halte ich für total sinnvoll, gerade wegen der vielen Synergien.
Zum Diskurs in der Spieleindustrie fällt mir noch ein Beispiel ein: An der ITU in Kopenhagen werden regelmäßig Absolvent*innen in der Spieleindustrie untergebracht. Die Thesis von Sarah Zimmerdahl Josefsen habe ich bspw. auch in meinem Buch zitiert, weil sie über das Quest-Design in Open-World-Spielen schreibt. Mittlerweile arbeitet Josefsen für Massive Entertainment an dem „Avatar“ Open-World-Spiel – ein riesiger Ubisoft-Titel, der für Dezember 2023 angekündigt ist. Allerdings ist es fraglich, ob sie ihr akademisches Gegenstandsverständnis dort wirklich einbringen kann.
Es fehlt uns noch das entsprechende Podium, in dem wie beim Film konzeptionell an Videospiele herangegangen wird. Anhaltspunkte zu Medien- und Games-Philosophie lassen sich in Skandinavien finden und es gab auch hierzulande vor zwei Jahren eine Games-Philosophie-Tagung. Eine weitere Adresse wäre Daniel Vella in Malta. Aber wie gesagt, den fließenden Austausch, diese Kultur des Austauschs, gibt es noch nicht.
Ich glaube, was die Cahier du Cinéma ausgemacht haben oder auch, was Le Corbusier damals geschafft hat, war, von einem ganz anderen Blickwinkel über das eigene Medium bzw. die Architektur nachzudenken. Le Corbusier hat seine Gedanken zu Film mit der „promenade architecturale“ in seinen Bauten inkorporiert – das ist nichts anderes als eine Kamerafahrt durch die Architektur. Solche Ideen kommen aus einer ganz anderen Sozialisierung mit Kunst und Kultur als wir sie heute in der Spieleindustrie vertreten finden. Die Philosophie, oder genauer gesagt die Ästhetik, ist meiner Meinung nach leider aus fast allen kulturschaffenden Bereichen herausgefallen. Und wenn sich Entwickler*innen mit Videospielen philosophisch auseinandersetzen, dann meist unbewusst.

Jörg Aber brauchen wir dafür Academia? Gibt es Magazine in Deutschland, die sich theoretisch auf einem interessanten Niveau mit Videospielen auseinandersetzen?

Marc Es gab zwei Magazine, die mittlerweile beide eingestellt wurden. Die „Gain“ und die „WASD“. „WASD“ gibt es noch, allerdings unter dem Namen „Wasted“ und nur noch in der online Ausgabe. „WASD“ war in der gedruckten Ausgabe nicht unbedingt philosophisch, aber immerhin auf einem kulturwissenschaftlichen Niveau. Meinen Beobachtungen nach hat sich das Vermengen der verschiedenen Kulturen, wie ihr es beschreibt, auf YouTube oder Twitch ausgelagert. Vor kurzem habe ich mit etwas Glück ein spannendes Video von einer Videospielentwicklerin gefunden. Darin analysiert sie das Worldbuilding von „Elden Ring“ und welche Auswirkungen Design-Entscheidungen auf Spieler*innen haben. In diesem Zusammenhang kann ich die YouTube Kanäle „Game Makers Toolkit“ und „Super Bunny Hop“ empfehlen.

Jörg Um noch mal auf den Film zurück zukommen: In der Vorbereitung des Gesprächs bin ich auf ein Zitat von Godard gestoßen, in dem er David W. Griffith erwähnt, den Erfinder des Erzählkinos und der filmischen Grammatik. Und da musste ich an dein Buch denken. Du schreibst, dass in den Game Studies ein praktikables Analysemodell fehlt. Gibt es den Griffith der Videospiele bereits? Oder eine Videospiel-Grammatik?

Marc Ich schätze den einen „Griffith“ gibt es nicht, dafür sind Computerspiele in ihrer Ausformung zu differenziert, vielleicht zugleich auch zu komplex. Genau das habe ich über die Architekturtheorie oder -psychologie versucht. Es ist der Versuch, Konzepte der Architekturtheorie, die „promenade architecturale“ und das „hotel particulier“, in Videospiele zu übertragen. Denn meines Erachtens nach lassen sich diese Konzepte in Hybridform sehr häufig in Videospielen erkennen. Und von den Psycholog*innen Strange und Banning und ihrem Buch zur Campus-Planung habe ich mich ebenso inspirieren lassen. Ihr architekturpsychologisches Planungskonzept ließ sich ebenso sehr gut auf Videospiele anwenden. Zusammengenommen ist es der Versuch Videospielarchitektur in eine Taxonomie zu überführen. Christopher Totten hat bereits 2014 in seinem Buch „Architectural Approach to Game Design“ versucht viele Begriffe aus der Architektur, sowohl räumliche Kategorien als auch architektonisches Vokabular, in den Game Studies zu etablieren. Aber letzten Endes kommt es darauf an, wie es von anderen Forschenden aufgenommen wird.
Dem steht außerdem im Weg, dass die meisten Leute den Zugriff auf Games über Figuren kennengelernt haben. Das funktioniert in anderen Medien, wie dem Fernsehern oder dem Kino so. Dementsprechend nehmen sie die Figur als das zentrale Gestaltungselement war.

Louis Und leider versuchen viele Entwickler*innen in Videospielen genau das zu vermitteln. Ich habe den Eindruck, dass sich gerade die kassenstarken Titel wünschen wie Kino oder Film zu sein. Das schlägt sich dann in langwierigen Cut-Scenes, die cinematographisch inszeniert sind, nieder oder darin, dass in eine detailgetreue Animation der Mimik von NPCs investiert wird.

Marc Genau. Cineastischen Spiele, wie die Uncharted-Reihe oder die neue God of War-Reihe, sind bewusst so designt. Mein Appell ist hingegen, dass Games viel mehr können, als nur über ihre Figuren zu erzählen.
Und um wieder auf den Film zu kommen: Im Film oder der Film-Analyse gibt es schlicht schon sehr viele nützliche Begrifflichkeiten und Beispiele. Ich habe zum Beispiel lange versucht meinen Studierenden der Medienwissenschaft über Eric Rohmer den architektonischen Raum nahezubringen – also den filmischen Raum und den Konzeptraum. Nichtsdestotrotz komme ich dabei immer an dem Punkt, wo der Film mich unzufrieden zurücklässt, weil ich gerne selber handeln und eingreifen würde. Und das ist der Punkt, an dem Games ihr Potenzial erst entfalten können. Es geht nicht mehr um die Figur, sondern um das eigene Handeln, was man tun könnte, es geht um den Handlungshorizont und die Umgebungsgestaltung.
Und genau hier habe ich versucht mit meinem Buch anzuknüpfen, bspw. mit dem Kapitel zu Prospect Pacing. Um noch etwas tiefer einzutauchen: Dabei ging es mir auch darum, eine Alternative zu der in der Game Studies gerne verwendeten Affordanz-Theorie von Gibson zu liefern. Mich stört daran, dass sie der Raumerfahrung nicht wirklich gerecht wird und einem differenzierteren Blick auf die Bewegung durch Videospielräume im Weg steht.

Jörg Mich hat deine Aussage fasziniert, dass die Architektur im Videospiel der eigentliche “main character” ist. Und das erschien mir am Beispiel von „The Stanley Parable“ besonders passend: Das Spiel ist schlicht nichts anderes als eine Architektur der Entschiedungsfindung – natürlich ist die Architektur der eigentliche Hauptcharakter, den als Spieler*in bist du in konstantem Dialog mit ihr. In diesem Beispiel finden Diskurs übers Medium und die Praxis zusammen.

Marc Ja, es geht! Und im Grunde dreht sich alles um die Entscheidung links oder rechts, null oder eins. Mir erscheint an dieser Stelle die Analogie zum griechisch-antiken Labyrinth mit dem Minotaurus passend. Open-World Spiele funktionieren stark vereinfacht genauso. Spieler*innen können sich rein theoretisch in alle Richtungen bewegen, aber um den Spielfortschritt voranzubringen, muss am Ende immer die Entscheidung getroffen werden, welche Quest als nächstes angegangen wird – sprich links oder rechts. Im Labyrinth wie in vielen älteren Spielen finden wir hauptsächlich eine deterministische Architektur. Das sind Schläuche oder Gänge. In der Open-World ist das abwechslungsreicher gestaltet: Da bewegen sich Gamer*innen frei durch Täler und Wälder, bevor es hinter einem Höhleneingang es wieder labyrinthisch wird.
Aktuell spiele ich das neue „Assassin‘s Creed: Mirage“, das im Bagdad des 9. Jhdt. spielt. Das ist ein gutes Beispiel dafür. Vereinfacht gesagt, bewegen sich Spielende entweder auf den riesigen Bauklötzen der Levelarchitektur oder dazwischen. In Gassen oder auf Dächern. Diese Entscheidung macht für die Fortbewegungsweise einen riesigen Unterschied. An sich bleibt sie aber eine Entscheidung zwischen links und rechts, null und eins. Claus Pias hat schon damals das wesentlich formuliert: es geht um mitenander vernetzte Orte, die von der Spieler*in als Wegraum kombiniert werden. Die Spieler*in ist die transportierte Post in einem Postsystem,  in einer Serie von Entscheidungen werden Wegpunkte bereist und so Weltlichkeit erzeugt.

Louis Ich habe in deinem Buch von Francine Rotzetters 100-Schritt-Methode gelesen. Sie ist studierte Architektin und hat sich nach dem Studium Videospielen zugewandt. Mit der 100-Schritt-Methode sollen Videospielerfahrungen vergleichbar gemacht werden und es wird nicht jeder Schritt, sondern jede Entscheidung, nach links oder rechts, notiert. Ihre Methode ist im Grunde auf dem aufgebaut, was du und Claus Pias beschreiben. Mich würde allgemein deine Methode interessieren, denn du machst, soweit ich weiß, Architekturbegehungen in Computerspielen. Wie sieht das konkret aus?

Marc Ich habe das tatsächlich aus meinem kunsthistorischen Studium. Außerdem habe ich vor sehr langer Zeit einmal angefangen Klassische Archäologie zu studieren. Dort werden sogenannte Feldbegehungen angewandt, woraus ich meine Methode abgeleitet habe. In einer solchen Begehung wird die vorgefundene Architektur in Fassadengestaltung, Raumaufteilung etc. unterteilt. Meine Studierenden habe ich in dem Zusammenhang immer das Architekturvokabular von Reclam an die Hand gegeben. Zusätzlich zur Begehung habe ich zu jedem Spiel über 1000 Screenshots gemacht. Bei wirklich detaillierten Open-World-Spielen wie wie „The Witcher 3: Wild Hunt“ oder „Horizon Zero Dawn“ waren es deutlich mehr. In beiden Horizon-Spielen habe ich jeweils ca. 2000-3000 Screenshots gemacht. In meinem Buch hätte ich am liebsten den gesamten Abbildungskatalog angehängt, damit in Ansätzen diese Flut an Eindrücken begreifbar wird. Das Sammeln der Bilder hatte u.a. auch den Hintergrund, dass ich ein Kapitel zur Interieur-Gestaltung und ein Kapielt zur In-Game- bzw. Landschaftsfotografie geplante hatte, beide mussten aus Platz- und Zeitgründen leider gestrichen werden.

Jörg An der Stelle möchte ich gerne wieder auf das Inhaltliche zurückkommen: Ich versuche, ein bisschen auf die Zukunft der Videospiele zu blicken und frage mich, was Videospiele vermitteln oder sein könnten. Es gibt Shooter, Lernspiele, das Thema Gamification und das Metaverse und doch sehe ich die Tendenz, das Menschen, ganz allgemein gesprochen, gerne Spuren hinterlassen.

Marc Ja, dieses Thema gibt es an mehreren Stellen in meinem Buch. Ich sehe das unter dem Schlagwort Anthropozän. In der Forschung hat sich dazu bereits die Sparte der Green oder Ecocritical Game Studies aufgetan. Und auch in Open-World Spielen finden wir das Anthropozän: Dort herrscht vor allem eine Siedler- oder Trapper-Mentalität. Spieler*innen erobern mit ihren Avataren Land, wobei diese Handlung im Spielnarrativ zumeist als Kampf einer Minderheit gegen eine oppressive Macht verkauft wird.  Aber im Grunde erobern Spielende Territorium nach Territorium und kämpfen sich durch Feindesland. Besonders augenscheinlich wird das, wenn Spieler*innen in einigen Open-World-Titeln in feindlichen Außenposten ihre Flagge hissen können und diese dann als Schnellreisepunkt nutzbar werden. Nach Deleuze und Guattari ist das nichts anderes als das Imperium, sprich der gekerbte Raum. Die Handlungen die heutzutage in Videospielen dazu führen, dass du Spuren hinterlässt, sind eigentlich imperialistisch und kolonialistisch, auch wenn sie im Narrativ des Spiels als Freikämpfen von der Obrigkeit umgestülpt sind. Das gleiche gilt für das „Merging“ verschiedener Spielmechaniken in Open-World-Spielen. Das bedeutet das bspw. Rollenspiel-Elemente eingebaut werden. Ergo müssen Spieler*innen ihren Avatar aufleveln und dafür zumeist die Natur ausbeuten. Bessere Items, bessere Waffen und bessere Rüstung. Die Fortschrittsleiter muss ewig weiter erklommen werden, was als neo-liberalistisches Moment gelesen werden kann. Im Sub-Genre der Survival Crafting Games finden sich diese Spielmechaniken zuhauf. Man könnte mich fragen, warum ich den Begriff der Mensch-Natur-Dichotomie überhaupt noch verwende, da er total veraltet ist. Und dem stimme ich voll und ganz zu. Das ändert allerdings nichts daran, dass aktuell in Videospielen genau dieses vormorderne Weltbild aus dem 19. Jahrhundert verbreitet ist. Die Spieleindustrie ist schlicht noch nicht weiter.

Louis Du schreibst in deinem Buch, dass die Spiele immer anachronistischer werden. Ich frage mich, ob dieses Verhältnis irgendwann vollends kippt und gerade die  jüngere Generationen davon gelangweilt sein werden und abspringen. Und im Fortgang entsteht die Frage, wie sich Open Worlds, die Welterzählungen oder Weltversionen, wie es bei dir und Goodman heißt, dann weiterentwickeln können?
Und abseits vom Inhaltlichen: Lässt sich so eine ressourcenintensive Entwicklung in Zukunft überhaupt noch verteidigen? Letzten Endes sind das extrem dekadente Spielereien.

Marc Ja, auf jeden Fall! So ein Titel kostet bis zu 300 Millionen Euro oder Dollar und beschäftigt 1000-2000 Personen über mehrere Jahre und über den Globus verteilt. Die mittlerweile wie zu Corona-Zeiten von zuhause aus arbeiten. Bei über 1000 Angestellten plustert sich die Infrastruktur schon enorm auf. Und dann kommt die  Distribution des Spiels über Datenträger oder das Internet noch hinzu. Auf dieser Ebene hinkt die Industrie schon lange hinterher, auch wenn sich einige Entwicklerteams ein Umdenken auf die Fahnen geschrieben haben. Seit der auf der UN-Versammlung 2019 vorgestellten „Playing for the Planet“-Allianz ist in diesem Sektor, gerade bei AAA-Studios, leider nicht viel passiert.

Jörg Hier würde ich aufhören und zu unserem praktischen Teil übergehen, wenn das für euch in Ordnung ist. 


© 2023 Post Physical Sense Lab
© 2024 Post Physical Sense Lab