Labor für Begegnungen zwischen Kunst, Forschung und Lehre

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23.05.2023
Louis Oehler

Bodenstichproben im Sumpf der Technologie


Zirkulierende Referenz Revisited



Mit dem Post Physical Sense Lab betreiben wir künstlerische Laborarbeit. Um unsere Haltung deutlicher zu machen und zu verstehen wie dabei Erkenntnisse entstehen, hilft eine erneute Visite des Textes „Zirkulierende Referenz“ von Bruno Latour. 

Wir legen einen Faden im Urwald der Technologie aus. Wie die Pedologen und Botanikerinnen in Bruno Latours Essay folgen wir diesem Faden und dem dazugehörigen Apparat, dem topofil chaix, ins Unterholz noch fremder Perspektiven aufs Metaverse, Videogames und Social Media. Wir notieren in unsere digitalisierten Notizblöcke, beschriften säuberlich die kleinen Icons auf unseren Desktops, hören zu, zeichnen auf und überführen die Daten in unser Labor, in unsere Praxis, in unser Schreiben.

“Refere” bedeutet “herbeischaffen“. Und das leisten wir im Kollektiv. Wie die Botanikerinnen und Pedologen aus Latours Essay interessiert auch uns ein gemeinsamer Forschungsgegenstand: Die Sozialisationsräume und ihre Ausgestaltung in digitalen Interfaces und Technologien. Dazu gehören Videogames (von mobile bis immersiv), VR-Chat oder Spatial, VR-Brillen, Photogrammetry und Unity. Und im Gegensatz zu den Forscher*innen in Boa Vista ist uns von Beginn an klar, dass dieses Projekt immer davon erzählen wird, wie ein Architekt und ein Künstler an denselben Medien zusammenarbeiten. Wir wollen diesen Aspekt sogar noch verstärken und laden bewusst andere Disziplinen unserer und anderer Universitäten ein. Das Projekt wird zum Vehikel, welches durch den sozio-technologischen Urwald mäandert und dabei neue Weisen des interdisziplinären Zusammenarbeitens vorschlägt.

„Refere“ ist auch ein Garant für wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Machen wir die Prozesse transparent, die zu einem Datensatz oder einer digitalen Erzählung führen, schaffen wir Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit bedeutet auch, die Technologien erwiesenermaßen zu verstehen; sie empirisch und spielerisch ergründet zu haben. Auch aus diesem Grund sind wir zusammengekommen. Ich als Architekt will Videogames als technisch-menschliche Prozesse und Strukturen verstehen, sie austricksen und programmieren. Der Aufbau dieses impliziten Wissens schafft ein für Forschung essenzielles Gegenstandsverständnis, über welches parallel dazu in Boa Vista die Botanikerin Edileusa verfügt, wenn es um ihre Pflanzenfamilien geht – die sie „genauso gut wie ihre eigene Familie kennt“. Uns ist es ein Anliegen dieses Verständnis weiterzutragen und andere Technologie-Forschende dazu anzuregen, sich auf die immersive Haptik von Gamepad und VR-Brille einzulassen; und dabei womöglich neue Blickwinkel auf das Unterholz der Levelgeometrien zu gewinnen.

Jörg Brinkmann interessiert sich als forschender Künstler immer für die künstlerische Praxis, die Erkenntnisse generiert. Unity, Photogrammetry und Lidar-Scanner können auch „heuristic devices“ sein. Sie sind unsere Werkzeuge, die wie das topofil chaix im Regenwald eine Überführung in einen wissenschaftlichen Kontext ermöglichen; aus der Welt der Dinge in die Abstraktion. Wie im Regenwald ist hier eine transparente ︎︎︎ Dokumentation vonnöten, um nachvollziehen zu können, wo die Daten zugeordnet werden können und wohin wir sie weiter transformieren. 

Unser mobiles Labor ist das Vehikel unserer Forschung und seine Bewegungen zu notieren ist bereits eine Antwort auf unsere Projektfrage: wie können Künstler und Architekt an denselben Medien sinnvoll zusammenarbeiten?

Dabei liegen Vorteile der Laborarbeit auf der Hand: Erstens, etablieren wir eine angenehme Verfügbarkeit aller herbei geschafften Referenzen. Eine gemeinsame Basis. Zweitens, schaffen wir eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Also eine ungewohnte Übersicht auf Material, welches normalerweise weit verstreut liegt und nun neue Zusammenhänge zulässt. Drittens, sind wir im Labor erst in der Lage die Topologie unserer Referenzen neu zu ordnen und theoretisch/praktisch glaubwürdig weiterzuverarbeiten. Viertens und abschließend, lassen sich zwischen den Referenzen im Labor automatisch Muster erkennen. Ganz gleich dem Pedokomparator in Latours Text: Gewisse Muster leuchten regelrecht auf und wollen weiterverarbeitet werden.

Ein Fallstrick komplexer Technologien: Indem wir uns „heuristic devices" bedienen, formen wir immer auch die gewonnene Erkenntnis. So ist es unabdingbar, die Instrumente, ihre Störungen und präziser ihr Deformationspotenzial zu beschreiben. Dieser Prozess dient der Reinigung der Daten, die ähnlich der Arbeit im Urwald von jeder Lokalität gesäubert, erst abstrakt und in den Flux der Wissenschaft fließen können.

Und exakt darum geht es Latour in seiner philosophisch-anthropologischen Betrachtung der Forschenden im Regenwald. Zirkulierende Referenz ist ein Synonym für das Wandern von Information; wie ein Stückchen Erde im Urwald Boa Vistas zu einem mit Druckerschwärze beschrifteten Stück Papier wird.

Wissenschaft, wie sie in den oberen Zeilen beschrieben wird, ist zu einem großen Teil Kartographie, Trigonometrie und Geographie. Wir verstehen unser Projekt ähnlich. Die eigentlichen Erkenntnisprozesse, künstlerisch und wissenschaftlich (!), finden in einer Praxis und ihrer Transformation statt. Wie Armand, Bruno, Edileusa, Heloisa und Sandoval mit Instrumenten bepackt in den Regenwald fahren, bauen wir unsere Geräte auf, um mit anderen Forschenden, Kunstschaffenden und Lernenden ins Gespräch zu kommen. Diese Gespräche und geschaffenen Situationen sind unsere Referenzen. Erkenntnisse gewinnen wir an drei Stellen: In der vorbereitenden Recherche, der Praxis und ihrer Auswertung. 

In Gedanken an die philosophische Expedition vom Regenwald in die Naturwissenschaften, ist unsere Antwort auf die Frage wie wir Forschung betreiben simpel: Wir besinnen uns auf unsere angelernten Fähigkeiten und bleiben offen für die Erkenntnisse, die im wissenschaftlichen und künstlerischen Austausch an uns herangetragen werden.
Literatur
  1. Latour, Bruno. 2014. „Der Pedologenfaden von Boa Vista: Eine photo-philosophische Montage“. In Der Pedologenfaden von Boa Vista: Eine photo-philosophische Montage, 213–64. Akademie Verlag. https://doi.org/10.1515/9783050071299.213.

  2. „4 Fourteen Reasons to Mistrust the PhD | Artists with PhDs“. o. J. Zugegriffen 21. August 2023. http://www.jameselkins.com/yy/4-fourteen-reasons-to-mistrust-the-phd/.

  3. Scott, Jill, Hrsg. 2017. Artists-in-Labs: Processes of Inquiry. Berlin: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783990437186.




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